Nach der Sperre

Ich hab sie abgesessen, jedenfalls Zweidrittel, und das war keine Strandparty, kann ich euch sagen. War zwischenzeitlich ganz schön weit draußen, und wäre fast sogar auf der Erdbeerfarm gelandet, wenn ich nicht über alte Connections an gute Downers gekommen wäre. Danach gings dann wieder. Ich wurde fett wie Klaus Beimer, hörte, Körbe flechtend, Radio Nostalgie oder übte mich, auf der Matratze sitzend, in atonaler Improvisation, bis sie von nebenan riefen: „Wir sind hier nicht in Donaueschingen, Kai!“. „Und ihr werdet es auch niemals sein!“, rief ich zurück, nahm den Kapodaster und sang ihnen „Any day now“, bis sie schwiegen. Nun bin ich von Haus aus zwar Kenner, aber Weißgott kein Liebhaber von Grenzsituationen. Ich meine, ich stand da nach meiner Entlassung, wie alle anderen, mit Pappkarton und paar Euro in der Tasche auf dem Bahnsteig und dem Vorsatz, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Und dann endete gleich der erste Fahrkartenstreit trotz guten Benzospiegels handgreiflich. Das öffnete mir die Augen: Wenn ich an ruhigeres Fahrwasser auch nur denken wollte, musste ich dringend zu Potte kommen und in meiner eigenen Biographie erstmal paar Schlussstriche ziehen.

Mit einem Rachefeldzug hatte das also gar nichts zu tun, als ich mir roten Nummernschildern und dem grauen Lappen in der Tasche in der weißen DS vom Hof rollte, Richtung Ring, heading for Gartenstadt, wo laut Google Maps mein alter Vertrauenslehrer und Schulpsychologe Dr. Drescher immer noch wohnte. Bei dem war ich damals als spätes Kann-Kind mit schwerer Legasthenie in Behandlung gewesen, einmal sogar fünf Tage Lese-Rechtschreib-Boot-Camp an der Ostsee. Ich wollte erstmal ihn nach seiner Meinung fragen zu meinem linken Schläfenlappen und den vielen Stresshormonen aus der Dingsbums-Drüse. Er empfing mich in seiner unaufgeräumten Lehrer-Butze und überfiel mich ohne Punkt und Komma mit Ego-Gefasel; von seiner Trennung, seinem Burn Out, seinem Ritalin-Problem und seinen Suizidimpulsen. Dr. Drecksau, dachte ich. Und wie er dann auch noch, zum Beweis, seine P99 aus der Schublade holte, da wurde ich endgültig fuchsig. Ruck-zuck hatte ich ihm die Knarre abgenommen, ritsch-ratsch-klick durchgeladen und brüllte: „Ich geb dir gleich Burn-Out, du Scheiß-Candle in the Wind“. Dann ballerte ich zwei Löcher in seinen Plasmaschirm, und wie er zu flennen anfing, steckte ich Knarre und Ritalin-Blister ein und polterte aus dem Haus.

Auf dem Weg zur Schwester lief mir mein alter Jugendtrainer Günter lattenstramm vors Auto. Und beinahe hätte ich ihn übergemöllert, konnte gerade noch bremsen und lud ihn in den Wagen. Wir fuhren zum Irish Pub am Bahnhof, der einzigen Kneipe, wo er kein Hausverbot hatte, und da ließ er mir bei viel Guinness seine letzten 30 Jahre Paroli laufen. Ich wollte ihn gerade fragen, warum er mich damals ständig auf der Bank hat schmoren lassen, da fuhr er mir dazwischen: „Niemals bin ich einem von euch an der Strippe gewesen, das weißt du genau!“ „Jaja“, sage ich, „ist mir auch scheißegal, aber du darfst heute so nicht mehr reden“ – „Nichts aber!“ Und seit den Beschuldigungen laufe gar nichts mehr bei ihm. Kognitive Zerrung oder so, sagen sie, hat er, und Dinger würde er verseppeln, die hätte er früher mit dem Pimmel reingemacht. „Ist ja gut“, sag ich und  „Posaun hier mal nicht so rum.“ „Soll ich jetzt hier die Muschi machen oder was?“, sagte er. Da orderte ich Paddy, füllte ihn final ab. Ich fuhr ihn zum Roten Ochsen, bekam ein Zimmer ohne Vorschuss, legte ihn rein und sperrte ihn weg. Und wie ich dann auf dem Parkplatz der weißen DS den Arsch hochpumpte, die Reifen quietschen ließ, da fühlte ich mich wie Johnny Depp in Las Vegas.

Und dann fuhr ich direkt in die Vorhölle der Randbezirke, wo die Ebene in die Stadt überfließt, hinter Ikea, in der Märchensiedlung, folge den ballongeschmückten Party-Schildern und sitze kurz darauf in einem Strandkorb und unterhalte mich sehr vertraulich mit mir wildfremden Menschen. Langsam betrinke ich mich mit Bier, Fanta-Johnny-Walker, Jägermeister-Red-Bull und einer fragt, ob er mich aus dem Fernsehen kennt. Ich sage: „Ja, ich war mal der Schurke in Verbotene Liebe.“ Die anderen reden über Popstars und Grundstückpreise. Ein Joint geht rum. Small and social talk – das Übliche. Dann krähte der Arsch aus dem Nachbergarten wegen zu lauter Musik und ich bewarf ihn mit Fleisch und schoss auf seine Sonnenkollektoren. Noch bevor die Bullen eintreffen konnten, ließ ich Vorteil gelten, verteilte die Ritalinkapseln unter den Gästen und machte mich aus dem Staub; den Königskinderweg runter zur Bundestraße. Unter der Autobahnbrücke hockten die Elenden um ein Feuer. Ich sang ihnen „The Ghost of Tom Joad“ und bekam dafür ein Bier. Dann leerte ich das Magazin der Walther und gab sie ihnen mit den Worten: „Ihr braucht sie mehr als ich“, wusch mir die Schmauchspuren ab und torkelte bachabwärts, der Stadt entgegen und einem künftigen Leben – … Dingsbums, in sozialer Verantwortung.